Die Geburtsstunde der Fahrradkultur

17. Juli 2019 | Mobilität: Im Jahr 1869 schwappt eine Welle der Fahrradbegeisterung durch die Metropolen.

Im Jahr 1869 schwappt eine Welle der Fahrradbegeisterung durch die Metropolen. Das erste Fahrzeug mit Dampfantrieb ist da zwar schon 100 Jahre alt. Doch bevor das Automobil seinen Siegeszug antritt, erlebt die frühe ‚Velo-Kultur‘ ihre erste Blütezeit.

Als sich am 15. Juni 1869 der ‚Norddeutsche Verein zur Überwachung von Dampfkesseln in Hamburg‘ gründete, war er nicht der erste, der in jenem Jahr in Hamburg Verkehrsgeschichte schrieb. Zwei Monate zuvor hatten 20 Herren den ‚Eimsbütteler Velocipeden-Reitclub‘ aus der Taufe gehoben, der sich als ältester ‚Bicycle‘-Verein der Welt bezeichnet.

Inzwischen hat er sich in ‚Altonaer Bicycle-Club‘ umbenannt und pflegt die Radgeschichte in einem Blog. Dort findet man manche Kuriosität aus den Gründungstagen: Die frühen Velo-Reiter führten in Hamburgs Ballsälen Tänze auf dem Rad auf – sogar unter Leitung eines Ballettmeisters. „Viele der fahrenden Herren bewiesen eine außerordentliche Gewandtheit in der Führung dieses neuen Beförderungsmittels“, zitiert der Club die ‚Hamburger Nachrichten‘ vom April 1869.

Im gleichen Jahr fand in Paris auch das erste Langstreckenrennen statt, ein früher Vorläufer der Tour de France, und die erste Fahrradzeitschrift, ‚Le vélocipède illustré‘, erschien. „Ende der 1860er Jahre erlebten die Tretkurbelvelocipeds einen regelrechten Boom in Europa und den USA,“ schreibt Thomas Kosche vom Technoseum in Mannheim zum 200-jährigen Geburtstag des Fahrrads. Der Mannheimer Karl von Drais hatte das Ur-Fahrrad 1817 erfunden, nachdem viele Pferde infolge einer Klimakatastrophe verhungert waren. Eine Wolke aus Vulkanasche hatte im Vorjahr in Europa den Sommer und somit Teile der Ernte gekostet.

Anfangs hieß das Ur-Fahrrad noch ‚Draisine‘ oder ‚Laufmaschine‘. Es hatte zwei Räder und einen Sattel, aber keine Pedale; man musste sich mit den Füßen am Boden abstoßen. Erst in den 1860ern statteten französische Erfinder das Vorderrad mit einem Tretkurbelantrieb aus und platzierten den Sattel darüber.

Das Gefährt, nun ‚Velociped‘ (Schnellfuß) oder ‚Bicycle‘ (Zweirad) genannt, verfügte 1869 schon über einige bekannte Bauteile; es gab einen Rahmen, Metallfelgen und Gummireifen. Doch es diente vorwiegend den wohlhabenden Schichten als Sportgerät und Freizeitvergnügen. Denn es war teuer und eignete sich nur bedingt zur Fortbewegung im Alltag: Um mit der einfachen Tretkurbel schnell genug vorwärts zu kommen, musste das Vorderrad sehr groß sein. Man balancierte in bis zu 1,50 Höhe, was den Jockeys einigen Mut und artistisches Geschick abnötigte.

So eröffneten 1869 in New York Dutzende von Bicycle-Schulen, die diese Kunst lehrten. „Ein kräftiger Gentleman vom Lande ist aus einer fernen Provinz allein deshalb angereist, um sich unterrichten zu lassen“, berichtet das Wissenschaftsmagazin ‚Scientific American‘ im Frühjahr 1869 aus einer der Schulen. „Der Lehrer läuft mit ihm umher und hält ihn auf dem Velociped, indem er einen Arm fest um seine Hüften legt.“ Der Schüler kauerte ähnlich einem Jockey darauf und sah dabei aus, als wollte er ein widerspenstiges junges Pferd bändigen. „Es gab einen guten Grund dafür, dass man sie ‚Knochenschüttler‘ nannte“, schreibt der US-Historiker Evan Friss über die neuen Räder im New York des Jahres 1869.

Wegen der hohen Sturzgefahr konstruierte der Engländer John Starley erst Ende der 1880er das ‚Sicherheitsniederrad‘ mit zwei kleineren Rädern und einem nach hinten verlagerten Sitz. Der Verbreitung als Fortbewegungsmittel schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Der ‚Scientific American‘ hatte schon 1869 den verbreiteten Vorbehalten gegen radelnde Frauen widersprochen: „Wir sehen keinen vernünftigen Grund, warum Damen für diesen Sport nicht spezielle Kleidung tragen und ihn im Freien genießen sollten.“ Der fortschrittlichen Ansicht hatten sich aber auch 25 Jahre später noch nicht alle angeschlossen. „Es tat mir im Herzen weh, Frauen zu sehen, die dabei Hosen trugen“, schrieb 1894 eine Frau, die ein eigenes Fahrradmagazin führte.

In den 1890ern schwappte die ‚Bicycle Mania‘ durch die gesamten USA. Da allerdings hatte der Mannheimer Ingenieur Carl Benz schon jenes Gefährt erfunden, das dem Zweirad im nächsten Jahrhundert den Rang ablaufen sollte: das erste Automobil mit Verbrennungsmotor.

Wendet sich die Geschichte erneut? „150 Jahre nach der ersten Hochphase könnte das veränderte Klima dem Fahrrad zu neuer Blüte verhelfen“, sagt Klaus Peter Kalendruschat von TÜV NORD. Der Psychologe hofft auf den Beginn eines neues Velo-Zeitalters: „Dann feiern unsere Urenkel das Jahr 2019 als Geburtsjahr einer neuen Radkultur.“