Warum wir in der Bahn so ungern neben Fremden sitzen

Ein Netzwerk im Gehirn überwacht den Sicherheitsabstand zu anderen Menschen: Kommt jemand zu nah, schlägt es Alarm.

In einem vollen Zug fühlen sich die meisten Menschen unwohl. Das zeigt sich sogar in ihren körperlichen Stressreaktionen, wie US-Forscher von der Cornell University 2007 beobachtet haben. Die beiden Psychologen hatten Berufstätige, die mit der Bahn nach New York pendelten, nach ihrem Befinden gefragt und ihren Speichel auf Stresshormone untersucht. Das überraschende Ergebnis: Es war gar nicht so wichtig, wie dicht der Wagon besetzt war. Der Stresspegel hing vielmehr davon ab, ob eine fremde Person unmittelbar neben ihnen saß.

„Die Person auf dem Nachbarsitz dringt in die unsichtbare Sicherheitszone ein, die wir für unseren eigenen Körper beanspruchen“, erklärt Christian Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Köln. In der Fachsprache wird diese Zone „peripersonaler“ Raum genannt, sagt der Psychologe. „Dort tolerieren wir Fremde nur, wenn es für die körperliche Nähe einen guten Grund gibt, wie in einer überfüllten Bahn, in einem engen Aufzug oder bei einer medizinischen Untersuchung. Deshalb ist es auch ein ungeschriebenes Gesetz, sich nicht direkt neben eine fremde Person zu setzen, solange noch ein Zweiersitz frei ist.“

Beschrieben wurde diese Sicherheitszone erstmals in den 1950er Jahren von einem Schweizer Zoologen, Heini Hediger: Der Zoodirektor entdeckte, dass in Gefangenschaft lebende Tiere einen bestimmten Abstand zueinander hielten. Der US-Anthropologe Edward T. Hall entwickelte daraus in den 1960er Jahren ein eigenes Fachgebiet: die Psychologie des menschlichen Raumverhaltens, kurz „Proxemik“. Demnach spiegelt sich die Vertrautheit zwischen zwei Menschen in ihrer körperlichen Nähe.

Unterschied zwischen "Freund und Feind"

Was als nah gilt, unterscheidet sich allerdings von Kultur zu Kultur. Ein grober Richtwert: Die Intimzone endet bei rund 45 Zentimetern, gemessen von der Körpermitte. So nah dürfen nur die engsten Vertrauten kommen. Die persönliche Zone reicht in etwa eine Armlänge weit. In dieser Entfernung dürfen sich auch gute Bekannte aufhalten – während ein fremder Eindringling hier stets Unbehagen weckt.

Dafür sorgt ein System in unserem Gehirn, das den Raum um uns herum überwacht. Dieses neuronale Netzwerk zwischen Hinterhaupt- und Stirnlappen wird aktiv, sobald uns eine Person unangemessen nahekommt. Die Nervenzellen in diesem Netzwerk sammeln Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen wie Haut, Augen und Ohren, verknüpfen sie miteinander und mit den eigenen Bewegungen im Raum. Sogar Signale, die wir gar nicht bewusst wahrnehmen, können dabei mitverarbeitet werden.

Wie eine Sicherheitskamera bildet das Netzwerk das Geschehen im Nahraum ab, vor allem in den Sicherheitszonen um Gesicht, Oberkörper und Arme. Es gibt aber nicht nur ein Drinnen und Draußen, sondern graduelle Abstufungen: Je näher ein Fremder kommt, desto heftiger der Alarm. Die Mindestabstände sind auch nicht für alle Zeiten festgeschrieben, sondern veränderbar: Zum Beispiel können Werkzeuge oder eine Prothese den Körper und damit auch den peripersonalen Raum erweitern.

Körpersignale geben Auskunft über Schutzzonen

Die Schutzzone wächst ebenfalls, wenn sich jemand verletzlich fühlt, zum Beispiel im letzten Drittel einer Schwangerschaft. Sie kann sich aber auch dauerhaft von einer Person zur anderen unterscheiden. Misstrauische Persönlichkeiten etwa brauchen einen größeren Mindestabstand, und ebenso Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind: Sie können es überdies schlechter aushalten, wenn jemand ihre Grenzen überschreitet.

Besonders gut sichtbar sind solche Unterschiede in öffentlichen Verkehrsmitteln. „Wenn es zu eng wird, stellen die Leute auf andere Weise nonverbal Distanz her: Sie vermeiden Augenkontakt, verschränken die Arme, drehen den Körper weg“, berichtet Christian Müller von TÜV NORD. „Für manche ist die Nähe sogar so schwer zu ertragen, dass sie lieber stehen bleiben. So können sie ausweichen, um den nötigen Mindestabstand wiederherzustellen.“

Eine Fahrt mit Bus oder Bahn bietet deshalb immer genug Material für eine psychologische Feldstudie. Der Psychologe rät: „Wenn Sie in einer vollen Bahn sitzen, beobachten Sie – natürlich ganz diskret – die Körpersprache der Mitreisenden. Falls Ihnen selbst unbehaglich zumute ist, werden Sie feststellen: Damit sind Sie nicht allein.“

Über die TÜV NORD GROUP

Vor über 150 Jahren gegründet, stehen wir weltweit für Sicherheit und Vertrauen. Als Wissensunternehmen haben wir die digitale Zukunft fest im Blick. Ob Ingenieurinnen, IT-Security-Experten oder Fachleute für die Mobilität der Zukunft: Wir sorgen in mehr als 100 Ländern dafür, dass unsere Kunden in der vernetzten Welt noch erfolgreicher werden.

Themen:

Verkehr/Mobilität

Claas Alexander StrohKonzern-Kommunikation

Tel.: + 49 511 998-62296
cstroh@tuev-nord.de