Was passiert, wenn wir beim Autofahren tagträumen?

26. Januar 2023 | Mobilität:: Der Psychologe Christian Müller von TÜV NORD warnt vor Tagträumen am Steuer: Wer mit den Gedanken nicht bei der Sache ist, macht selbst bei einfachen Aufgaben mehr Fehler.

Die meisten Menschen blicken am Steuer scheinbar konzentriert auf die Straße. Doch das kann täuschen: Manchmal kreisen die Gedanken dabei um die Arbeit oder um private Sorgen wie ein krankes Kind oder einen Streit mit der Familie. Besonders auf vertrauten Strecken schweifen die Gedanken häufig ab, wie eine Forschungsgruppe 2021 berichtete. Das Team aus Neuseeland und den Niederlanden forderte daraufhin sogar, dass die Verkehrsforschung das Tagträumen als Normalzustand ansehen sollte.

Das Phänomen tritt nicht nur beim Autofahren auf. Ob beim Duschen, Kaffeekochen oder bei anderen Routinetätigkeiten: „Wenn wir etwas zum wiederholten Mal tun, sind wir gedanklich oft nicht mehr bei der Sache“, erklärt Christian Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Köln. Der Blick ins Gehirn bestätigt das. Beim Tagträumen wird ein bestimmtes Netzwerk im Gehirn aktiv, das „Default Mode Network“ oder „Ruhezustandsnetzwerk“. Es reicht von der Großhirnrinde an der Stirn über die mittleren Schläfenlappen zum oberen Scheitellappen.

„Das Netzwerk regt sich immer dann, wenn wir etwas tun, was nicht unsere volle Aufmerksamkeit braucht“, sagt der Psychologe. „Es wird also genau dann wach, wenn andere Netzwerke vor Langeweile eindösen.“ In der Forschung verwendet man deshalb monotone Aufgaben, um die Gedanken zum Abschweifen zu verleiten. Eine der Erkenntnisse aus solchen Experimenten im Hirnscanner: Sobald die Versuchspersonen mit ihren Gedanken woanders sind, machen sie selbst bei einfachen Aufgaben mehr Fehler.

Doch die Folgen von Tagträumen am Steuer sind noch wenig erforscht. Viele der Studien dazu stammen von der University of Waikato in Neuseeland. Dort stellen Psychologinnen und Psychologen um Samuel Charlton und Nicola Starkey ihre Versuchspersonen nicht nur im Fahrsimulator auf die Probe, sondern befragen und beobachten sie mit Hilfe von technischen Geräten auch beim Fahren im eigenen Auto. Unter anderem fragten sie Pendlerinnen bei der Fahrt zur Arbeit, woran sie gerade dachten. Ergebnis: In knapp zwei Drittel der Fälle waren sie gedanklich nicht bei der Sache.

Allerdings hatte mehr als die Hälfte der abschweifenden Gedanken mit Dingen zu tun, die auf der Fahrt zu sehen oder zu hören waren. Nahmen sie ihre Umgebung unbewusst wahr? Eine weitere Studie an der University of Waikato spricht ebenfalls dafür. Fazit: Man bekommt beim geistesabwesenden Fahren durchaus etwas von der Umwelt mit – auch wenn man sich später nicht daran erinnert.

Dennoch können Tagträume gefährlich werden. Die meisten Fachleute stimmen darin überein, dass das Unfallrisiko steigt, wenn die Strecken monoton und die Gedanken auf Abwegen sind. Wer am Steuer öfter gedanklich abwesend ist, verstößt zum Beispiel eher gegen die Verkehrsregeln. Exzessives Tagträumen kann außerdem mit psychischen Problemen zusammenhängen, vor allem mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), einem bekannten Risikofaktor für Regelverstöße und Unfälle im Straßenverkehr.

Auch der Charakter verrät etwas über die Tendenz zum Tagträumen und damit verbundene Problemeam Steuer. In einer Studie aus dem Jahr 2022 gaben mehr als 900 Versuchspersonen in Australien und Italien Auskunft über ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten im Straßenverkehr. Emotional labile ebenso wie extravertierte Charaktere neigten demnach zu einem riskanteren Fahrstil, und dieser Zusammenhang war zum Teil dadurch zu erklären, dass sie häufiger tagträumten. Dagegen ließen gewissenhafte Menschen ihren Gedanken seltener freien Lauf.

Aber was kann man tun, wenn man zu Tagträumen am Steuer neigt? Eine einfache Mahnung, beim Autofahren besser aufzupassen, genügt nicht, zeigte wiederum Forschung der University of Waikato. „Ein wichtiger erster Schritt ist, sich das Risiko bewusst zu machen«, sagt Christian Müller von TÜV NORD. Der Psychologe empfiehlt außerdem, auch auf vertrauten Strecken ganz bewusst auf den Verkehr zu achten, etwa auf neue Schilder, die Fahrweise des Vordermannes oder auf Kinder am Straßenrand. „Wenn die Gedanken eine Aufgabe haben, gehen sie nicht selbstständig auf Wanderschaft.“

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