"Die MPU hat den Straßenverkehr sicherer gemacht"

Interview mit Dr. Egon Stephan zu 70 Jahren MPU

Zur Geschichte, den Aufgaben und den Leistungen der Medizinisch-Psychologischen Untersuchungsstellen (MPU) für die Beurteilung der Kraftfahreignung sprach der TÜV NORD mit dem Kölner Universitätsprofessor Dr. Egon Stephan, einem in diesem Bereich über viele Jahrzehnte als Verkehrspsychologe tätigen Experten.

 
1954 wurden bei den Technischen Überwachungsvereinen (TÜV) die ersten Medizinisch-Psychologischen Untersuchungsstellen (MPU) für die Beurteilung der Kraftfahreignung eingerichtet. Welche Aufgaben sollten sie bearbeiten?

Im Mittelpunkt stand von Anfang an die gemeinsame medizinische und psychologische Begutachtung von Personen, bei denen seitens der Verkehrsbehörden oder der Gerichte Bedenken gegen deren Fahreignung bestanden.

Untersuchungsanlässe waren beispielsweise körperliche oder geistige Beeinträchtigungen. Besonders wichtig waren von Anfang an Begutachtungen wegen Zweifeln an der psychischen/charakterlichen Eignung, ausgelöst durch schwerwiegende Verkehrsverstöße, wie etwa Trunkenheit am Steuer. Wichtig ist hierbei, dass die Gutachten nicht die Aufgabe haben, das Fehlen der Eignung nachzuweisen, sondern die aufgrund der Vorgeschichte bestehenden Bedenken auszuräumen! Die medizinisch-psychologischen Gutachten liefern fachwissenschaftliche Grundlagen für die Entscheidungen von Verkehrsbehörden und Gerichten. Im günstigen Fall können die, aufgrund der negativen Vorgeschichte oder der körperlichen Leistungsbeeinträchtigungen, bestehenden Bedenken durch ein positives medizinisch-psychologisches Gutachten ausgeräumt werden.

Wie sieht denn eine solche MPU-Untersuchung aus?

Die MPU besteht in der Regel aus drei Teilen: Zuallererst steht eine medizinische Untersuchung an. Darüber hinaus wird ein psychologischer Leistungstest zum Beispiel zum Reaktionsvermögen durchgeführt. Zum Abschluss folgt ein psychologisches Gespräch - eine sogenannte Exploration - zu Einstellungen und Verhalten der begutachteten Personen.

Die Untersuchungsergebnisse und ihre Interpretation müssen in den Gutachten für Behörden und Gerichte nachprüfbar und nachvollziehbar erläutert werden. Die endgültige Entscheidung liegt bei den Verkehrsbehörden bzw. dem Gericht.

 

Zur Person

Prof. Dr. Egon Stephan

Als Obergutachter für die Begutachtung der Kraftfahreignung hat Prof. Dr. Egon Stephan ca. 7.000 medizinisch-psychologische Obergutachten und als gerichtlich bestellter Sachverständiger zahlreiche Gutachten für Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte sowie Sozial- und Strafgerichte erstattet.

Durch seine Veröffentlichungen hat Professor Stephan großen Einfluss auf die Rechtsprechung, u. a. des Bundesverwaltungsgerichts sowie die Leitlinien für die Beurteilung der Kraftfahreignung der Verkehrsminister von Bund und Ländern ausgeübt.

 

Sie selbst haben ihr erstes Berufsjahr bereits vor vielen Jahrzehnten in einer MPU verbracht, können Sie sich noch an einen Fall aus dieser Zeit erinnern?

Ja, besonders gut ist mir ein Kraftfahrer in Erinnerung, der wegen zahlreicher Verkehrsverstöße, wie Geschwindigkeitsüberschreitungen, Überfahren einer Kreuzung, obwohl die Ampel auf Rot stand, sowie zahlreicher anderer Fälle von Nichtbeachten der Verkehrsregeln bestraft worden war. Die Verkehrsbehörde wollte ihm wegen der vielen Verkehrsverstöße die Fahrerlaubnis entziehen.

Als ich mit ihm – in der psychologischen Exploration – über seine Vorgeschichte im Verkehr und seine Strafen sprach, behauptete er, dass er diese Bestrafungen so gut wie alle zu Unrecht oder “, weil er eben ein Pechvogel sei”, erlitten habe.

Als aus seiner Sicht besonders schlagenden Beweis für seine Unschuld führte er an, dass er “noch nie im Leben” in einen Unfall verwickelt gewesen sei. Um ihm eine besondere Chance zu geben, sein korrektes Verkehrsverhalten unter Beweis zu stellen – die Fahrerlaubnis war ihm noch nicht entzogen worden - schlug ich ihm eine Probefahrt mit seinem eigenen Fahrzeug vor. Als wir zu seinem Fahrzeug, einem VW Käfer kamen, fiel mir sofort auf, dass alle vier Kotflügel massiv eingedellt waren. Aus der Form und Position der einzelnen Dellen war zu erkennen, dass dieser Fahrer mindestens in 3-4 Unfälle mit Blechschaden verwickelt gewesen war. Interessant war, dass dem Betroffenen selbst nicht auffiel, dass der Zustand seines Fahrzeuges seine Aussage „noch nie in einen Unfall verwickelt gewesen zu sein“ sehr deutlich widerlegte. Er kam auch gar nicht auf die Idee, die Blechschäden an seinem Fahrzeug zu erklären. Diesem Fahrer fehlte es also völlig an einer realistischen und selbstkritischen Wahrnehmung seines Fahrverhaltens. Vor diesem Hintergrund konnte keine positive Verkehrs-Verhaltensprognose erstellt werden. Diese mangelnde Einsicht ist typisch für den größten Teil der zu begutachtenden Personen. Obwohl sie erst nach vielen Regelverstößen zur MPU müssen, sind sie in der Regel überzeugt, ihr eigenes Verhalten sei auf jeden Fall ebenso korrekt wie das der anderen Verkehrsteilnehmer.

Auf der Basis dieser unrealistischen Selbstbeurteilung besteht keine Hoffnung, dass sich solche Personen in Zukunft besser an die Verkehrsregeln halten als in der Vergangenheit. Aus diesem Grund muss in einem solchen Fall eine negative Verkehrs-Verhaltensprognose abgeleitet werden. Die Fahrerlaubnis muss daher entzogen werden oder kann nicht erteilt werden.

Haben denn diese verkehrspsychologischen Begutachtungen den Straßenverkehr sicherer gemacht? Es wird häufig behauptet, dass die Verkehrsteilnehmer von Jahr zu Jahr riskanter fahren und überhaupt rücksichtsloser werden?

Diese Behauptung ist zum Glück unzutreffend. Aufgrund der amtlichen Verkehrsstatistiken lässt sich sehr überzeugend belegen, dass die Verkehrssicherheit in den letzten Jahrzehnten sehr deutlich gesteigert werden konnte!

 

 

Anhand welcher Zahlen lässt sich die Steigerung der Verkehrssicherheit denn belegen?

Die im Trend sehr positive Entwicklung, mit kleineren Schwankungen von Jahr zu Jahr, ist anhand der statistischen Daten sehr beeindruckend! Dies kann ich durch Gegenüberstellung einiger statistischer Zahlen für die Jahre 1980-2021 deutlich machen. Dabei beziehe ich mich wegen der besseren Übersichtlichkeit nur auf die Anzahl der Verkehrstoten und nicht auch auf die Anzahl der Verletzten.

1980 mussten wir bei rund 61 Millionen Einwohnern im Gebiet der Bundesrepublik 15.050 Verkehrstote in einem Jahr beklagen. 2021 wurden in Deutschland 2.562 Verkehrstote registriert. Dies bedeutet einen Rückgang um 83 Prozent, damit lag die Anzahl der Verkehrstoten 1980 sechsmal höher!

Das klingt ja “fast zu schön, um wahr zu sein”.

Ja und bei genauer Prüfung ist die positive Entwicklung sogar noch deutlicher. Denn die Zahlen von 1980 beziehen sich ja nur auf das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik mit etwas mehr als 61 Millionen Einwohner:innen und die Zahlen von 2021 betreffen eine Bevölkerung von etwas mehr als 83 Millionen. Hinzu kommt auch noch, dass die Kraftfahrzeugdichte in diesen 40 Jahren signifikant gestiegen ist.

Durch welche Maßnahmen ist denn die Verkehrssicherheit nach ihrer Überzeugung verbessert worden?           

Als Faktoren, die entscheidend die Verkehrssicherheit gefördert haben, sind beispielsweise die Pflicht zum Anlegen des Sicherheitsgurtes, die Senkung der Grenzwerte für Alkohol am Steuer, die Steigerung der technischen Sicherheit der Kraftfahrzeuge, die Verbesserung des medizinischen Unfallrettungswesens, sowie die Entschärfung von Unfallschwerpunkten zu nennen.

Da stellt sich natürlich die Frage, ob sich bei den vielen bereits erwähnten Einflussfaktoren, die die Verkehrssicherheit gesteigert haben, überhaupt noch ein spezifischer Effekt der MPU auf die Verkehrssicherheit erkennen lässt. Gibt es auch hierfür aussagekräftige Daten?

Ein spezifischer positiver Effekt der MPU lässt sich überraschend eindeutig anhand der „Alkohol-Verkehrstoten“ pro Jahr, also der Anzahl der Toten, bei denen der Hauptverursacher des Unfalls, unzulässig stark alkoholisiert war, nachweisen. Die Anzahl der „Alkohol-Verkehrstoten“ ist deshalb so bedeutsam für den Nachweis der Wirksamkeit der MPU-Begutachtungen für die Verkehrssicherheit, weil die oben genannten allgemeinen Maßnahmen für die Verkehrssicherheit allen Verkehrsteilnehmenden zugutekamen, aber der Schwerpunkt der Tätigkeit der MPU in der Begutachtung von alkoholauffälligen Kraftfahrern lag. Die hierbei erreichte Steigerung der Verkehrssicherheit durch die Tätigkeit der MPUs möchte ich an folgenden Zahlen belegen: Im Jahr 1980 wurden 3.290 Alkoholtote, also 22 Prozent der Unfalltoten insgesamt, gezählt. Im Jahr 2021 waren es nur noch 165, also 6,4 Prozent der Unfalltoten insgesamt. Die Anzahl der „Alkohol-Verkehrstoten“ sank also über dreimal so schnell wie die Anzahl der Verkehrstoten insgesamt. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser überproportionale Rückgang bei den „Alkoholtoten“ direkt mit der Begutachtung der alkoholauffälligen Kraftfahrer durch die MPUs zusammenhängt. Denn durch die negativen Gutachten über die unbelehrbaren Trunkenheitstäter:innen wurden systematisch die gefährlichsten, trunkenheitsauffälligen Kraftfahrer:innen aus dem Verkehr gezogen.

Zusätzlich wurden auch noch von den MPU für die weniger schweren Alkohol-Fälle, in der Begutachtung, Nachschulungskurse entwickelt, in denen die Kontrolle lernen sollten, ihren Alkoholkonsum zu kontrollieren. Hinzu kam noch ein weiterer sehr wichtiger Effekt in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch verkehrspsychologische und verkehrsmedizinische Veröffentlichungen. Noch 1981 galten Trunkenheitsdelikte in der Bevölkerung, aber auch bei Verkehrsbehörden und vielen Gerichten als „Kavaliersdelikt“.

1988 habe ich eine grundlegende Analyse zum Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit in der Gesellschaft und den Trunkenheitsdelikten im Verkehr veröffentlicht. Darauf aufbauend entstand 1993 ein von mir verfasstes Grundsatzgutachten für das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein. Dieses Gutachten wurde 1994 vom Bundesverwaltungsgericht zustimmend zitiert. In der Folge berücksichtigten die Verwaltungsgerichte in ihren Urteilen und die Verkehrsbehörden in ihrer Entscheidungspraxis, dass alkoholauffällige Kraftfahrer mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille und mehr ausnahmslos aus der Bevölkerungsgruppe mit chronischen Alkoholproblemen, also mit schwerem Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit, stammen.

Meine wissenschaftliche Einschätzung, dass es sich bei den alkoholauffälligen Kraftfahrern nicht um Gelegenheitstrinker handelt, die mal „ein Gläschen über den Durst“ getrunken haben, sondern um „fahrende Trinker“, hat sich inzwischen bei Gerichten, bei Verkehrsbehörden aber auch in der Bevölkerung durchgesetzt.

Heute können Personen, die bei Einladungen keinen oder wenig Alkohol konsumieren, „weil sie noch fahren müssen“, mit Verständnis der Gastgeber:innen rechnen, während dies vor 40 Jahren viel seltener der Fall war. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nicht nur die Anzahl der Verkehrstoten zurückging, sondern dass im Verlauf der Jahre auch immer weniger Fahrerlaubnisse wegen Alkohol am Steuer entzogen werden mussten:

1980 wurden durch die Gerichte annähernd 160.000 Fahrerlaubnisse entzogen. 2021 lag dieser Wert um zwei Drittel niedriger bei etwas über 51.000. Auch hier zeigt sich, dass wir große Fortschritte bei der Vermeidung von „Alkohol am Steuer“ gemacht haben. Diese Werte sprechen dafür, dass der beharrliche Kampf gegen die Unfallursache Alkohol am Steuer sehr erfolgreich war.

 

 

Neben Alkohol spielen aber auch noch andere Drogen am Steuer immer wieder eine Rolle. Die seit April vollzogene Legalisierung des Konsums von Cannabis ist umstritten. Was bedeutet ein legaler Cannabiskonsum für den Straßenverkehr?

Grundsätzlich gilt, dass niemand unter dem Einfluss von stimmungsverändernden Psychopharmaka sowie legalen oder illegalen Drogen am Verkehr teilnehmen sollte! Das gilt für alle Verkehrsteilnehmer:innen, aber vor allem auch für die Fahranfänger:innen. Deshalb sollten die bei Alkohol vorgeschriebenen Null-Toleranz-Grenze für Fahranfänger:innen in vergleichbarer Form auch im Hinblick auf den Cannabiskonsum geregelt werden.

Das ist vermutlich eine Thematik, die uns noch länger beschäftigen wird. Wie wird sich die MPU in den nächsten 30 Jahren weiter entwickeln? Würde es helfen, die Promillegrenzen weiter zu senken?

Aus heutiger Sicht können wir im Zusammenhang mit der Unfallursache Alkohol noch deutlich mehr Verkehrssicherheit durch Absenkung der Grenzwerte erreichen. Im Hinblick auf die Unfälle, ohne den Einfluss von Alkohol, Cannabis und illegalen Drogen, sollte ein Schwerpunkt der MPU bei der Begutachtung und der positiven Beeinflussung durch Nachschulungskurse bei den sogenannten „Punktetätern“ liegen. Also demjenigen Personenkreis der aufgrund einer zu hohen Risikobereitschaft und eines zu geringen Verantwortungsbewusstseins sich selbst und andere Verkehrsteilnehmende ständig in Gefahr bringt.

Aufgrund eigener Untersuchungen durch mehrere 100.000 Geschwindigkeitsmessungen auf dem Autobahnring um Köln (verdeckte Messung, ohne Polizei und Sanktionierung) während mehrerer Monate, konnten meine Mitarbeitenden und ich feststellen, dass der Anteil derjenigen Verkehrsteilnehmenden, die die Geschwindigkeit um mehr als 20 km/h überschreiten, zwischen fünf und sieben Prozent liegt. So hoch dürfte der Anteil derjenigen Verkehrsteilnehmenden sein, die konsequent die Verkehrsregeln, unabhängig von Alkohol oder Drogeneinfluss, verletzen und dadurch sich und andere in Gefahr bringen. Dieser Teil der Verkehrsteilnehmer:innen verursacht nicht nur Tote, sondern auch viele schwer verletzte Personen. Hier ist zu bedenken, dass 2021 – trotz der Steigerung der Verkehrssicherheit – im Straßenverkehr mehr als 323.000 Personen verletzt wurden, hier ist also noch viel Luft nach oben für die Verkehrssicherheit.

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der MPU könnte in freiwilligen Fahrverhaltenstests bei älteren Verkehrsteilnehmenden bestehen. Auf der Basis von solchen Verhaltenstests könnten durch die Fachleute Vorschläge gemacht werden, wie durch den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen altersbedingte Leistungsbeeinträchtigungen zu kompensieren sein könnten. So könnte die MPU auch in diesem wichtigen Verkehrsbereich einen wertvollen, gesellschaftlichen Beitrag für die Unterstützung der individuellen Mobilität älterer Menschen bei gleichzeitiger Wahrung der allgemeinen Verkehrssicherheit leisten.